Keynes: der Marktskeptiker

Der Roman „Argentinisches Roulette“ ist auch eine Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen. Die Protagonisten, Fjodor, Mascha, Suki und „Wolf“, sind alle zwischen Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger Jahre geboren. Ihre große gemeinsame geschichtliche Erfahrung ist der Fall des Kommunismus und der Aufstieg des Finanzkapitalismus. Diese Ereignisse und der hohe Grad an Freiheit, Selbstbestimmung und Bestätigung, den sie in ihrem Berufsleben erfahren, bestimmen ihre Sichtweise auf die Welt und ihre zunächst eher distanzlose Beziehung zu ihrem beruflichen Umfeld in der Finanzwirtschaft.

Hauptquartier des Internationalen Währungsfonds in Washington Quelle: International Monetary Fund Lizenz: Public Domain Die Originaldate ist hier zu finden.

Hauptquartier des Internationalen Währungsfonds in Washington DC
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Ihnen gegenübergestellt ist eine Gruppe von Personen, die kurz nach dem 2. Weltkrieg geboren wurden. Dazu gehören beim Internationalen Währungsfonds (IWF) Tantani, Sakurai, „Vara“ und Koski. Kalter Krieg, Entkolonialisierung und Vietnamkrieg haben sie geprägt. Einige von ihnen setzen sich kritisch mit der Rolle des IWF in den Neunziger Jahren auseinander und stellen sein grenzenloses Vertrauen in freie Märkte in Frage. Denn der IWF war ursprünglich als Teil eines umfassenden institutionellen Rahmens zur Zähmung der Finanzmärkte gedacht. In den 70er Jahren entwickelte er jedoch eine genau entgegengesetzte Agenda der (Kapital-)Marktliberalisierung, die er, gestützt auf seine überragende Stellung in den Finanzmärkten, in vielen Teilen der Welt durchsetzte und bis heute, z.B. in Griechenland, durchsetzt.

Nicht nur für den Generationen-Aspekt des Romans, sondern auch in der aktuellen politischen Diskussion über die richtige Antwort auf die Systemkrise des Kapitalismus spielen die Ideen von John Maynard Keynes und die Nachkriegsordnung der Weltwirtschaft, auf die Keynes nicht nur als Mitbegründer des IWF einen großen Einfluss hatte, eine zentrale Rolle. Sie sind die logische historische Referenz für Alternativen zum herrschenden System.

1929: Das Ende des Laissez-faire-Kapitalismus

Keynes galt schon zu Lebzeiten als einer der brillantesten Ökonomen seiner Generation und wird inzwischen als einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Seine Analysen erwiesen sich als äußerst hellsichtig. So war er einer der großen Kritiker des Friedens von Versailles mit dem der 1. Weltkrieg beendet wurde. In seinem Buch „The Economic Consequences of the Peace“ (1919) kritisierte er die Deutschland auferlegten Reparationszahlungen und prophezeite als Folgen „die Verarmung Mitteleuropas“, Rache, Revolution und „Katastrophen (…), die die Kultur und den Fortschritt unserer Generation zerstören werden.“ (Quelle s.u.)

Die Wall Street nach dem Börsencrash im Oktober 1929 Lizenz: CC0 1.0 Universell (CC0 1.0) Die Originaldatei ist hier zu finden.

Die Wall Street nach dem Börsencrash im Oktober 1929
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Als ähnlich hellsichtig erwies er sich hinsichtlich der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Sein Aufsatz „The End of Laissez-faire“ (dt.: „Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft“) von 1926 war der Weltwirtschaftskrise 1929 um drei Jahre voraus. Mit dieser Krise endete eine Zeit großer wirtschaftlicher Freiheit in einem Bankrott mit furchtbaren politischen und sozialen Kosten. In Deutschland wurden die Folgen der Krise durch die Reparationszahlungen und eine starre Sparpolitik verschärft und trugen zum Niedergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg Hitlers bei.

1944: Ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Markt

Nachdem sich die Prophezeiung von Keynes auf furchtbarste Weise verwirklicht hatte und die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg in greifbare Nähe gerückt war, bekam er seine große Chance, die Nachkriegsordnung mitzugestalten. Im Juli 1944 trafen sich führende Wirtschafts- und Finanzexperten der Alliierten im amerikanischen Bretton Woods, um eine neue, stabilere Weltwirtschaftsarchitektur zu schaffen. Neben Keynes war der US-amerikanische Notenbankchef Harry Dexter White der zweite zentrale Akteur der Konferenz und in wichtigen konkreten Fragen, wie z.B. der konkreten Ausgestaltung eines Systems fester Wechselkurse, auch sein Widersacher.

Harry Dexter White (r.) und John Maynard Keynes (l.) 1946; zwei führende Architekten der Nachkriegsarchitektur der Finanzmärkte Quelle & Autor: International Monetary Fund Lizenz: Public Domain Die Originaldatei finde sich hier.

Harry Dexter White (r.) und John Maynard Keynes (l.) 1946; zwei führende Architekten der Nachkriegsarchitektur der Finanzmärkte
Quelle & Urheber: International Monetary Fund; Lizenz: Public Domain
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Was Keynes Denken auszeichnet, ist ein sowohl theoretisches als auch empirisch begründetes Misstrauen gegenüber einem der zentralen Glaubenssätze der klassischen Wirtschaftstheorie: der Idee, dass freie Märkte und die Verfolgung des Eigennutzes den Wohlstand besser fördern als staatlich gelenkte Maßnahmen. In seiner „General Theory of Employment, Interest and Money“ (dt.: „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“) von 1936 zeigt er, dass das marktwirtschaftliche System auch bei flexiblen Preisen und Löhnen nicht automatisch zu Vollbeschäftigung führt und dass mikroökonomisch sinnvolle Verhaltensweisen im makroökonomischen Kontext völlig falsch sein können.

Anstelle des Laisser-faire-Kapitalismus setzte Keynes eine zentrale Stellung des Staates und eine staatlich gelenkte Konjunkturpolitik bis hin zur Finanzierung von öffentlichen Konjunkturprogrammen zur Überwindung von Rezessionen durch Schulden („deficit spending“). Auch in der aktuellen Krise haben kreditfinanzierte Konjunkturprogramme neben einer „Politik des billigen Geldes“, technisch heute als „Quantitative Easing“ bezeichnet, durch die Zentralbanken eine wichtige Rolle bei der Abfederung der Rezession gespielt. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die Schulden während der danach folgenden wirtschaftlichen Erholung nicht wieder getilgt werden. Steigende Staatsverschuldung und Inflation werden daher häufig als Kritikpunkte einer praktischen Anwendung der keynesianischen Rezepte gesehen. Der IWF dagegen verordnet Staaten, die wegen einer Überschuldung auf ihn angewiesen sind, ein streng orthodoxes Regime der Kürzung von Staatsausgaben. Die Politik des IWF stellt also in weiten Teilen das genauer Gegenteil der Empfehlung von Keynes (und der Lehren aus der Weltwirtschaftskrise 1929) dar.

Bretton Woods und die Nachkriegsordnung der Welt(wirtschaft)

Der Ort, an dem wesentliche Weichen für die Nachkriegsordnung der Weltwirtschaft gestellt wurden, nennt sich Bretton Woods und liegt im US-Bundesstaat New Hampshire. Dort kamen im Juli 1944 die Finanzminister und Notenbankgouverneure der späteren Siegermächte zusammen, um eine neue Weltfinanzarchitektur zu schaffen. Konkret wurden die noch heute bestehenden Institutionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank dort gegründet (die so genannten Bretton Woods-Institutionen) und die spätere Welthandelsorganisation (WTO) bereits vorausgedacht.

Das Mount Washington Hotel in Bretton Woods, in dem 1944 die Gründung des Internationalen Währungsfonds beschossen wurde. Autor: Sven Klippel (2003) Lizenz:  Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic Die Originaldate findet sich hier.

Das Mount Washington Hotel in Bretton Woods, in dem 1944 die Gründung des Internationalen Währungsfonds beschlossen wurde.
Autor: Sven Klippel (2003)
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Wichtige Erkenntnisse der Jahre seit 1929 waren:

  • Freie Märkte können versagen.
  • Dieses Versagen kann die Demokratie beschädigen.
  • Nationaler Protektionismus schadet allen.

Das künftige System sollte auf Basis von international verbindlichen Regeln für souveräne Staaten Stabilität und Freihandel sicherstellen .

Teil der Maßnahmen war daher auch ein System fester Wechselkurse (Bretton Woods-System) mit dem Dollar als Leitwährung, der seinerseits durch physische Goldreserven abgesichert war. Die USA tauschten auf Verlangen Dollar gegen Gold ($35/Unze), alle übrigen Währungen wurden im Verhältnis zum US-Dollar verankert. Dies war der entscheidende Punkt, in dem sich White gegen Keynes durchgesetzt hatte: Keynes wollte eine Verrechnungswährung namens Bancor einführen. Doch White sicherte durch die Etablierung des US-Dollars als Leitwährung die absolute Dominanz der USA über das wirtschaftliche Nachkriegssystem. Dieses System wurde flankiert von Kapitalverkehrskontrollen, einem politischen Instrument, das den Neoliberalen geradezu Teufelszeug gilt, damals aber allgemein als notwendige Voraussetzung Stabilität, Wohlfahrt und Handel gesehen wurde.

Auflösung von Bretton Woods und Wirkung in der Gegenwart

Soweit man das Bretton Woods-System eng, nämlich als System fester Wechselkurse, sieht, trug es den Keim seines Scheiterns bereits in sich. Bereits 1959 zeigte der Ökonom Triffin den grundlegenden Konstruktionsfehler auf: „Damit der Dollar als Reservewährung funktionieren konnte, musste die USA Importüberschüsse verzeichnen, denn nur dadurch gelangten die Notenbanken der übrigen Länder an die Dollarreserven. Doch gleichzeitig hatte der Dollar durch Gold gedeckt zu sein, dass sich aber nicht entsprechend vermehren liess. So war diese Deckung tatsächlich immer weniger gegeben, bis im Jahr 1971 der damalige US-Präsident Richard Nixon die Golddeckung des Dollars aufhob“ (Markus Diem Maier, Quelle: s.u.). Dabei spielte auch die steigende Verschuldung der USA im Zuge des Vietnamkrieges eine Rolle.

Gibt es eine Alternative? Zusammenstoß zwischen der Polizei und Demonstrant in Athen im Juni 2011. Urheber: Ggia; Lizenz:  Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“; die Originaldatei findet sich hier.

Gibt es eine Alternative? Zusammenstoß zwischen der Polizei und Demonstrant in Athen im Juni 2011. Urheber: Ggia; Lizenz: Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“; die Originaldatei findet sich hier.

Soweit man Bretton Woods im Kontext einer Vielzahl von anderen Politiken und Gesetzen aus den 30er und 40er Jahren sieht, ist die Konferenz immer noch eine wichtige Referenz. Ebenso wie die Politik des „New Deal“ von F. D. Roosevelt, die in Form eines „Green New Deal“ vor einigen Jahren nochmals diskutiert wurde (in Deutschland bekamen wir stattdessen die Abwrackprämie), oder das in den USA 1933 auf Grundlage des Glass-Steagall Act eingeführte Trennbankensystem, das insbesondere das mit hohem Risiko behaftete Investment Banking in Spezialbanken bündelte. Diese Banken waren häufig Partnerschaften mit persönlicher Haftung.

Kurz: Die politischen Antworten auf die Weltwirtschaftskrise und die Weltkriegskatastrophen des vergangenen Jahrhunderts scheinen vor dem Hintergrund einer neuerlichen Systemkrise wieder von großer Relevanz. Zumal diese Politiken und Gesetze den institutionellen Rahmen für ein interventionistisches Modell des organisierten Kapitalismus schufen, dessen Blüte vielleicht eben nicht ganz zufällig mit dem vom britischen Historiker Eric Hobsbawm beschriebenen „Goldene Zeitalter“ von 1945 bis 1973 zusammenfällt. Einem Zeitalter, das gekennzeichnet war durch einen einzigartigen Wohlstandssprung in der europäisch-nordamerikanischen Welt und einer historisch beispiellosen Vermehrung von Lebenschancen.

Ausgewählte Quellen und weiterführende Lektüre:

1. John Maynard Keynes

Keynes, John Maynard; The Economic Consequences of the Peace; 1919, dieser Text ist auch online im Project Gutenberg verfügbar.

Das Zitat lautet im Volltext: „If we aim at the impoverishment of Central Europe, vengeance, I dare say, will not limp. Nothing can then delay for very long the forces of Reaction and the despairing convulsions of Revolution, before which the horrors of the later German war will fade into nothing, and which will destroy, whoever is victor, the civilisation and the progress of our generation.“
Zitiert nach: http://www.history.com/this-day-in-history/keynes-predicts-economic-chaos

In Deutschland gibt es (seit 2003) eine eigene Keynes-Gesellschaft: Website

Dort findet sich auch die folgende gute allgemeine Zusammenfassung der Theorie von Keynes: „Keynes‘ Botschaft dagegen besagt im Kern: Für eine Wiedergewinnung hoher Beschäftigung ist eine entsprechend hohe Güternachfrage erforderlich. Eine Senkung von Preisen und Löhnen ist dagegen der falsche Weg; denn die Erwartung, dadurch entstünde zusätzliches Angebot und dieses schaffe sich gemäß Say’schem Gesetz seine Nachfrage, ist für eine Geldwirtschaft irreführend. Vielmehr kann das Wirtschaftssystem in einem Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung verharren, wenn es nicht gelingt, das Gesamtniveau der von den Unternehmen erwarteten Güternachfrage zu erhöhen.“

2. Die Konferenz von Bretton Woods 1944

Zur Einführung in die Bretton Woods-Konferenz eignet sich der Blog-Beitrag von Markus Diem Meier sehr gut, der am 20. August 2014 im Tagesanzeiger erschienen ist: Der Mythos von Bretton Woods (eine Rezension des Buchs The Battle of Bretton Woods von Benn Steil):

Darin findet sich auch die herrliche Anekdote, dass bei Gründung des IWF 1944 Harry Dexter White nicht nur (und sehr erfolgreich) die US-Interessen vertrat, sondern gleichzeitig für die Sowjetunion spionierte. Das wurde nie zum Thema, weil er bereits 1948 starb, führte aber dazu, dass der Chefsessel im IWF seitdem traditionell mit einem Europäer besetzt wird.

 

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